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Santa – Eine Kurzgeschichte über »Kindheit«, »Identität« und »Kultur«

Aktualisiert: 6. Mai



Ein Gastbeitrag von Victor Kagimba /


Irgendwo an den südlichen Ausläufern Ruandas stand eines zaghaften Nachmittags ein junges Mädchen, auf eine große, offene Landfläche starrend, die mit mehreren schlammverschmierten, mit U.N.H.C.R. gekennzeichneten Zelten bedeckt war. Die Augen des Mädchens überflogen fast jedes Zelt in der Umgebung, wobei jeder Beobachtung ein zweiter Blick folgte.


Sandrine, ein zehnjähriges Mädchen aus Burundi, sah aus, als ob sie darauf wartete, dass jemand oder etwas hinter einem der Zelte auftauchte. Ein Hund lief an einem der Zelte vorbei, doch sie schenkte ihm keine Beachtung. Sandrine hatte ein schmales Gesicht, kurze Haare und große Augen. Sie war schon immer klein und dünn für ihr Alter gewesen, doch in dem T-Shirt ihres älteren Bruders sah sie an diesem Tag noch skelettartiger aus.


»Ob du bereit bist oder nicht, hier komme ich!«


Sandrine hatte die Rolle der Sucherin in Saye übernommen, einem Versteckspiel mit einer Gesamtzahl von sieben Spieler:innen. Sie untersuchte sorgfältig jede Ecke der unmittelbar nahegelegenen Zelte, im Versuch, eine versteckte Spielerin ausfindig zu machen. Die Zelte nahmen einen großen Teil des Platzes im Flüchtlingslager ein. Ob bereit oder nicht, hier komme ich! Du kannst dich nicht verstecken. Ich werde dich finden und…


»Hab ich dich!«


Sandrine pirschte hinter einer der versteckten Mitspielerinnen heran, die sich einen Platz hinter einem kleinen Baum ausgesucht hatte, und zog sie hervor. Schon spürte sie einen weiteren versteckten Mitspieler hinter einem der abgelegenen Zelte auf, bevor es an der Zeit war, die Rollen zu wechseln. Sie schloss sich einigen anderen an, während des zweiten Spielabschnitts die Rolle einer sich versteckenden Mitspielerin zu übernehmen.

Sobald der neue Sucher mit dem Countdown begann, stürmte Sandrine los, den Hügel hinauf, dorthin, wo sich die Station von Ruandas Nationalpolizei und die Büros des Roten Kreuzes befanden, und nahm einen Platz hinter einem der Gebäude ein. Sie verharrte einige Sekunden lang still, dann reckte sie ihren Hals über die Hauswand, um nach irgendeinem Anhaltspunkt des Suchers Ausschau zu halten. Während sie ihren Kopf so im Verborgenen zurückwarf, verweilte ihr Blick auf einem kleinen Fernseher, versteckt in der Ecke des Raumes im Inneren des Gebäudes aufgestellt. Der Fernseher war an, doch niemanden schien zuzuschauen.


Es lief ein Weihnachtsfilm, der mit Agasobanuye synchronisiert war. Agasobanuye ist, eine witzig zugeschnittene, stimmliche Begleitung in der Kirundi/Kinyarwanda-Sprache zu ausländischen, meist westlichen Filmen vor. Der Film war schon zu drei Vierteln gelaufen, doch das tat Sandrines Begeisterung, einmal geweckt, keinen Abbruch. Sie steckte ihren Hals weiter durch das winzige Fenster und schaute sich den letzten Teil des Films an.


Der Gedanke an Santa Claus und die Vorstellung, zu Weihnachten Geschenke zu bekommen, warf Fragen auf, die Antworten erforderten. Es wäre weit hergeholt zu sagen, dass sie nicht fasziniert gewesen sei oder dass ihre Fantasie nicht angesichts der Aussicht, die Empfängerin von Geschenken zu sein, ins Tanzen versetzt worden sei. Ich meine. Das würde den Samen, der an jenem späten Nachmittag gepflanzt wurde, außer Acht lassen.


Als der Abspann des Films allmählich über die Leinwand lief, stand sie von ihrem Versteck aus auf. Ihre Gedanken und ihre Vorstellungskraft aber liefen weiterhin frei umher.


»Hab ich dich!« Das war der Sucher.


Das Gesicht des Suchers verzog sich zu einem gigantischen Grinsen, während er drohend auf Sandrine zeigte, die unbeeindruckt blieb. »Du bist raus!«, rief der Junge, der sich aufmachte, davonzulaufen, um nach dem nächsten versteckten Mitspieler zu suchen.


Sandrine schlenderte langsam den Schotterpfad hinunter, doch ihre Gedanken rasten weiter. Sie überkam nicht einmal ein winziges Zittern, als ein kleiner Hund sie unnachgiebig anbellte, und auch nicht, als ein in einer Plastiktüte verpackter Fußball gegen ihren Kopf prallte. Sie brauchte fast vier Minuten, bis sie das Familienzelt erreichte; ein Spaziergang, der für gewöhnlich etwa eine Minute dauerte.


Das Familienzelt war extrem sauber und aufgeräumt, dank der unerschütterlichen Liebe ihrer Mutter zu allem, was hygienisch ist. Allerdings war die Inneneinrichtung nichts im Vergleich zum voll ausgestatteten und maßgeschneiderten Innendesign des Familienhauses in Bujumbura.


Dies ist etwas, woran sich Sandrine nicht erinnern konnte, da sie bloß ein Kleinkind war, als ihre Familie vor der politischen Instabilität in Burundi floh. Das kleine Zelt, ihre Mutter und ihr großer Bruder sind alles, woran sie sich erinnerte, als sie aufwuchs.


Der Mut, Fragen über den Tod ihres Vaters zu stellen, hatte in Sandrine immer wieder erfolglos um Asyl gebeten. Ebenjener Mut fand jedoch Trost in der Moderation des Dialogs, den ihre Mutter im Stillen mit dem Universum führte.



Victor Kagimba



»Mama, ist San(t)a 1 echt?«


Die Mutter drehte sich rechtzeitig um, um Sandrines großen, wissbegierigen Augen zu begegnen, die auf sie gerichtet waren, ohne die Absicht, ihren schießenden Blicken zu entgehen.


»San(t)a? Ibyo ni ibiki?«, antwortete die Mutter und umarmte Sandrine, bevor sie sie durchkitzelte. Sandrine gab ein schallendes Kichern von sich, als sie versuchte, dem festen Griff der Mutter zu entkommen.


»Ngo San(t)a? Sprichst du Suaheli?«2


»Ich … habe es … im Fernsehen gesehen.«, sagte sie mittendrin, ein Lachen zurückhaltend.


»FERNSEHEN?«


Die Mutter warf einen genaueren Blick auf das lächelnde Gesicht ihrer Tochter.


»Ja, San(t)a bringt Kindern Geschenke.«


»Geschenke?«


»Ja, in dem Film.«


»Film?«


Die Mutter fragte weiter, während sie ein Kleidung­sstück faltete.


»Ja, neben dem großen Haus.«

»Ich habe dich davor gewarnt, dich in diese Gegend zu verirren.«


»Ich bin nicht...«


»Lass uns vorsichtig sein, sibyo?«


Sandrine nickte stumm, bevor sie auf einen weißen 10-­Liter-Kanister voller fermentierter Milch deutete.


»Urashaka ikivuguto?«


Auf das Nicken folgte ein Kopfschütteln.


»San(t)a sieht so aus!«


»Du meinst weiß?«


»Yego! Seine Haare und sein …« Sandrine rieb sich mit beiden Händen über Kinn und Wangen.


»Bart?«


»Yego! Er ist ganz weiß! noneho yambara rot und weiß wie Coca Cola – und! Das Gras war auch weiß!« Ihre Augen wurden größer, da sie darauf wartete, dass die Mutter eine Spur von Ungläubigkeit zeigen würde.


»Kandi…«, fuhr Sandrine nichtsdestotrotz fort: »Diese Kühe mit sehr großen Hörnern, die so machen, haben ein fliegendes Auto gezogen.«


Die Mutter bemerkte, dass die Geste mit den Hörnern, die ihre Tochter machte, den traditionellen Amaraba-Tanz darstellte. Tanzende bewegen dabei ihre Arme, um die majestätische Form der Kuhhörner zu imitieren.


»Uziko uzi kubyina! Mach das nochmal.«


Clap. Pause. Clap. Clap. Pause. Clap. Die Mutter verschwendete keine Zeit und machte von ihren Händen Gebrauch, um das Tempo vorzugeben. Sandrine warf ihr einen fragenden Blick zu, bevor sie zögernd die gleiche Pose einnahm und sich gemächlich zum Tempo bewegte.


Clap. Pause. Clap. Clap. Clap. Pause. Clap. Pause. Clap. Pause. Clap. Clap. Clap. Pause.


Der Bruder kam herein und stimmte sofort mit in das Klatschen ein.

Die Mutter überließ das Klatschen dem Sohn und schloss sich Sandrine an.


»Das Auto war in der Luft wie ein Vogel, Mama!«

»Ich bin mir sicher, das war es. Sieh mal an, wie du fliegst!«


Clap. Pause. Clap. Clap. Pause. Clap. Pause. Clap. Clap.


»Autos fliegen nicht. Du meinst indege?«.


Dies fragte ihr Bruder, während er versuchte, mit dem bereits beschleunigten Tempo Schritt zu halten.


»Kein Flugzeug! Ich weiß, wie ein Flugzeug aussieht, Dummkopf.«


Clap. Pause. Clap. Clap. Pause. Clap. Pause. Clap. Clap. Pause. Clap. Clap.


»Mama, hatten wir in Burundi ein Auto?«


Clap. Pause. C-l-a-p.


Die Mutter und der Bruder gingen zu einem langsamen Klatschen über und sahen Sandrine an, die träge zu einem ausklingenden Tempo weitertanzte. Ihre Gesichter schienen mit der Erinnerung zu ringen. Entweder das oder sie waren zu fassungslos, um zu sprechen. Das Klatschen hörte auf.


»Nicht viele Leute hatten ein Auto zu Hause in unserem Dorf.«, antwortete die Mutter halb, nachdem sie der Rückblende nachgegeben hatte.


»Aber Onkel Albert hatte ein Auto«, entfuhr es dem Bruder. »Papa ist damit ab und zu gefahren.«


Sandrine verknüpfte die Punkte. Sie hatten kein Auto. Sie hörte auf zu tanzen und grübelte, ob sie nach ihrem Vater fragen sollte. Sie grübelte noch ein bisschen weiter. Eine Weile sprach niemand oder machte ein Geräusch.


»Ich möchte zur Armee gehen.«


»Also, wie war das noch mal mit San(t)a?«


Der Bruder und die Mutter durchbrachen die Stille, doch sie sprachen zur selben Zeit.





Fußnoten:

1 Auf Kirundi, das hauptsächlich in Burundi gesprochen wird, entfällt bei Wörtern mit »nta« der Buchstabe »t« in der Aussprache. Dies gilt auch für Kinyarwanda, das hauptsächlich in Ruanda gesprochen wird. So wird zum Beispiel »nta kibazo« (was »kein Problem«­ bedeutet) als »na kibazo« ausge­sprochen. »Santa« klang für den Agasobanuye-Kommentator wie »Sana«, ebenso wie für Sandrine und jetzt für die Mutter.

2 »sana« bedeutet »sehr« in der in Ostafrika verbreiteten Verkehrssprache Suaheli.



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