Text von Annika Böttcher und Carolin Ehrlich
Es ist ein später Sommerabend, als wir telefonieren, sie in Freiburg, ich in Berlin. Unser Gespräch nimmt eine unerwartete Wendung, als Carolin von der IKEA-Werbung erzählt, die sie neulich in der Stadt gesehen hat: “Ein Platz an der Sonne zum kleinen Preis? - Ein Traum. IKEA.”. Unmöglich, finden wir beide - Warum, das beschreiben wir in diesem Blogbeitrag. Was wir dabei fast noch erschreckender finden: Die meisten ihrer Freundinnen verstehen die Aufregung kaum. Geht es Ihnen/Euch ähnlich? Wir fragen uns: Wieso sind vermeintlich hervorragend ausgebildete junge Menschen kaum informiert über die deutsche Kolonialgeschichte? Aus der Motivation heraus, eben dies zu ändern, beschließen wir, diesen Beitrag zu schreiben, für uns und alle, denen es mit diesem wenig sensiblen Slogan ähnlich geht; vor allem aber auch für ihre Freundinnen und jene, die genauso wenig verstehen, weshalb der Slogan eigentlich so unsensibel ist:
1897 ist das Jahr, in dem die Formulierung “Platz an der Sonne” an Bedeutung gewinnt - im Zusammenhang mit deutscher Kolonialpolitik. Hinter diesen vier kleinen Worten verbirgt sich eine ganze Bandbreite verwerflicher Ideale, die zur Lösung der innen- und außenpolitischen Herausforderungen der damaligen Zeit dienen sollten. Die aufkeimende Debatte um deutsche Kolonien im fernen Afrika wird etwa mit der Behauptung als Großmacht und dem damit verbundenen Sendungsbewusstsein gerechtfertigt. Sie dient aber gleichwohl auch der Ablenkung von innerstaatlichen Problemen wie steigender Arbeitslosigkeit oder fehlendem nationalen Zugehörigkeitsgefühl.
Die Argumentation geht aus einer Position vermeintlicher geistiger Überlegenheit hervor - könnten Neugründungen deutscher Kolonien doch bedeuten, das dort lebende “Urvolk” zu zivilisieren, ihnen gar zu helfen, sich “gesund” zu entwickeln. Der angeblich wissenschaftlich fundierte Sozialdarwinismus entfaltet seine ganze Wirkkraft. Als “Schutzgebiete” werden die brutalst einverleibten Gebiete inklusive der dort lebenden und oft hoch entwickelten Gesellschaften demnach betitelt.
Im Deutschen Reich ist die Rede von Platzmangel, Angst wird geschürt, das deutsche Volk breite sich aus und brauche mehr Nutzfläche - wirtschaftliche Interessen wie die Gewinnung von Ressourcen und die Kontrolle künftig wichtiger Handelslinien spielen plötzlich eine Rolle für den, der geopolitisch mithalten will. Die wirtschaftliche Ausbeutung wird in der Folge zu einer der Kerninteressen der deutschen Kolonialpolitik in “Deutsch-Ostafrika”, “Deutsch-Südwestafrika”, Kamerun, Togo u.a. Dass dieser verwerfliche Teil der deutschen Geschichte kein Teil des kollektiven Gedächtnisses ist, lässt sich auch mit der kurzen Dauer der insgesamt wenig ertragreichen Kolonialherrschaft nicht rechtfertigen.
Über 120 Jahre nachdem der Sonnen-Slogan erstmals das Bedürfnis nach kolonialer Herrschaft und damit auch die Grundlage für deutsche Kolonialverbrechen beschönigend beschrieben hat, sind die Folgen des vergangenen Jahrhunderts heute noch immer deutlich zu spüren.
Kurzfristig betrachtet bedeutete die Phase deutscher Kolonisierung die soziale und wirtschaftliche Ausbeutung von Bevölkerungsgruppen, das Abschlachten zehntausender Menschen und das Verursachen zahlreicher gesellschaftlicher Konflikte sowie den bis heute kaum aufgearbeiteten Völkermord an den Herero und Nama im heutigen Namibia.
Aber vor allem die langfristigen Auswirkungen sind es, die die heutigen globalen Machtstrukturen prägen - soziale und wirtschaftliche Abhängigkeiten, politische Einflussnahme, die Negierung bestehender Verantwortung für postkoloniale Aufarbeitung, das Fehlen von Ausgleichsleistungen oder gar Entschuldigungen für die jahrzehntelange Unterdrückung. Kulturelle Güter aus Ländern des Globalen Südens lagern als koloniales Raubgut in deutschen Museen, die Rückgaberechte seien schwer zu klären. Land- und Grenzkonflikte wie beispielsweise innerhalb Kameruns lassen sich auf die koloniale Grenzziehung Anfang des 20. Jahrhunderts zurückführen.
Deutlich wird: Es gibt eine Menge zu tun, den ehemals annektierten Platz an der Sonne aufzuräumen, über den noch immer die Schatten der Vergangenheit fallen.
Was hat all das nun mit der Arbeit der Root Foundation Germany e.V. zu tun?
Der deutsche Partnerschaftsverein der ruandischen NGO Root Foundation Rwanda praktiziert Partnerschaft modern, lässt sich materielle Ungleichheit doch niemals auf geistige Ungleichheit zurückführen. Vielmehr erwächst daraus die Verantwortung, materielle Barrieren abzubauen, kritische Reflexion über die eigene Rolle zu betreiben und Sensibilisierungsarbeit zu Themen der heutigen sog. Entwicklungszusammenarbeit leisten.
An IKEA ist all dies wohl vorbeigegangen, stellt sich einem doch leicht die Frage, was der “Platz an der Sonne” - ein wenig rühmlicher Zeitabschnitt deutscher Geschichte - mit Gartenmobiliar zu tun haben könnte. Vermutlich eher wenig. Sollte man nun vor diesem Hintergrund eine solche historisch entstandene Formulierung als Werbeslogan für Gartenmobiliar verwenden?
Die Antwort liegt wohl auf der Hand: Nein, niemals.
Und vor dem Hintergrund dieser Geschehnisse lässt sich die Sonne auf dem IKEA-Gartenstuhl auch kaum mehr genießen.
Quellen:
Sellen, Albrecht: Geschichte 2. kurz & klar. 2. Auflage. (Ernst Klett Verlag: Stuttgart 2010), S. 45-47.
Reed-Andersen, Paulette: Chronologie zur deutschen Kolonialgeschichte: https://bit.ly/329nCZO (letzter Zugriff: 30. September 2020)
Foto: https://twitter.com/manuelaboatca/status/1272558039397216256
IKEA and the “place in the sun” - German colonial history revisited
text by Annika Böttcher and Carolin Ehrlich
It is a late Summer evening when we talk on the phone, she calls from Freiburg, I from Berlin. Our conversation takes an unexpected turn when Carolin brings up the IKEA advertisement that she has recently seen in town: “Ein Platz an der Sonne zum kleinen Preis? - Ein Traum. IKEA.” (“A place in the sun at a small price? - A dream. IKEA.”). Impossible, both of us think - in this blog entry, we will describe why. What we consider almost more alarming in this regard: Most of her friends barely understand our concern. Do you feel in a similar way about this? We are wondering: Why are young adults - who purportedly have been preeminently trained - barely informed about German colonial history? Out of the motivation to change just this, we decide to write this post, for ourselves and all those who feel similar about this sparsely sensitive slogan; most notably, however, also for her friends and those who understand just as little why the slogan actually is so insensitive:
1897 is the year when the formulation “Platz an der Sonne” (“Place in the sun”) gains in importance - in the context of German colonial policy. These four small words conceal a whole range of reprehensible ideals that were supposed to serve towards the solution of challenges in domestic as well as foreign-policy at that time. The assertion as a major power and the sense of mission associated with it is, for instance, used as a justification for the emerging debate around German colonies in distant Africa. Nevertheless, this debate also serves as a way to divert attention from internal issues such as increasing unemployment or a lacking national sense of belonging.
The argumentation originates from a point of view of alleged intellectual supremacy - couldn't, after all, the establishment of German colonies signify an act of civilisation of the original people living there or even a help for them to develop “healthily”? The allegedly scientifically sound social Darwinism unfolds its full effect. The most brutally annexed areas, including the original and often highly developed societies living there, are thus titled “Schutzgebiete” (“protectorates”).
In the German “Reich” (Empire), lack of space finds mention, fear is stirred up, the German “Volk” (people) would allegedly be expanding and would need more cultivatable space - economic motivations such as the extraction of resources and the control of prospectively important trade routes suddenly play a role in the consideration of those who want to keep pace in geopolitics. Economic exploitation subsequently evolves as one of the key interests of the German colonial policy in “German East Africa”, “German South West Africa”, Cameroon, “Togoland” and further areas under German colonial rule. The observation that this reprehensible part of German history is not part of the collective memory can’t be justified by an emphasis on the short duration of the altogether little profitable colonial rule.
More than 120 years after the slogan involving the image of the sun first euphemistically described the desire for colonial rule and thereby also the basis for German colonial crimes, the consequences of the past centuries may still be sensed considerably today.
In the short term, the period of German colonisation amounted to the social and economic exploitation of population groups, the slaughtering of tens of thousands of people and the cause of numerous societal conflicts as well as the genocide against the Herero and Nama in present-day Namibia, which remains barely accounted for until today.
But, above all, it is the long-term effects that shape today’s global power structures - social and economic dependencies, exertion of political influence, negation of existing responsibility for postcolonial accounting for the past, the lack of compensatory efforts or even apologies for the decades-long suppression. Cultural goods from countries of the Global South are stored as colonial plunder in German museums, the clarification of rights to return is considered difficult. Land and border conflicts as, for instance, within Cameroon can be traced back to the colonial determination of borders in the beginning of the 20th century.
It becomes clear: There is a lot to do to tidy up the formerly annexed place in the sun, upon which the shadows of the past keep falling.
How is all of this related to the work of Root Foundation Germany e.V.?
The German partner association of the Rwandan NGO Root Foundation Rwanda practises partnership in a modern way, considering that material disparity should never be indicative of intellectual disparity. Rather arises from this the responsibility to dismantle material barriers, to engage in critical reflection on one’s own role and to accomplish sensitization concerning topics of present-day so-called development cooperation.
All of this appears to have passed by IKEA, and one will be inclined to wonder to what extent the “place in the sun” - a scarcely laudable period of German history - relates to garden furnishings. Probably rather less so. Should, against this background, such a formulation arisen from history eventually be used as an advertising slogan for garden furnishings?
The answer is staring us right in the face: No, never.
And, against the backdrop of these events, one will barely be able to keep enjoying the sun on the garden chair advertised by IKEA.
Sources (in German):
Sellen, Albrecht: Geschichte 2. kurz & klar. 2nd edition. (Ernst Klett Verlag: Stuttgart 2010), p. 45-47.
Reed-Andersen, Paulette: Chronologie zur deutschen Kolonialgeschichte: https://bit.ly/3mWUVYI (last access on 30 September 2020)
Photo: https://twitter.com/manuelaboatca/status/1272558039397216256
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