Wissen, wer man ist: Was die Root Foundation mit Identität zu tun hat. Ein Friedensangebot der Autorin an ihren Kollegen Paul Klahre.
Text: Annika Böttcher /
Lieber Paul,
Du dachtest wohl, Du würdest drumherum kommen, hast ahnungslos dieses Magazin aufgeschlagen: Und jetzt das hier. Ein Brief. Von mir, an Dich. Und worum geht es? Na klar, um Identität, um dieses Wort, das Du in jeden Flyer schreibst und zu dem Du mir bis heute keine Definition à la manière „Duden“ geliefert hast. Aber ich beharre auf Details. Deshalb habe ich im Duden nachgesehen. Dort steht: “1a. Echtheit einer Person oder Sache; völlige Übereinstimmung mit dem, was sie ist oder als was sie bezeichnet wird; 1b. als „Selbst“ erlebte innere Einheit der Person; 2. völlige Übereinstimmung mit jemandem, etwas in Bezug auf etwas; Gleichheit”.
Weil mir aber schon klar war, dass das Thema für Dich jetzt abgehakt ist, habe ich weiter recherchiert: mehr als ein Dutzend Interviews, ein paar Bücher, Artikel und jede Menge Podcasts später wähne ich mich in Sicherheit und glaube, dass ich es mit deiner 3-minütigen WhatsApp-Sprachnachricht aufnehmen kann.
Darin sagtest Du, „dass sich mir diese Schwierigkeit [den Begriff Identität zu nutzen, ohne ihn weiter zu definieren], nicht stellt, weil ich denke, dass Identität klar ist und sich erst mal selbst definiert. Also: Identität wird durch Selbstwahrnehmung und durch kulturelle Umstände definiert. Und wenn wir in der Root Foundation von ‚persönlicher Entwicklung stärken‘ sprechen, dann müssten wir auch anfangen, uns zu fragen: Was ist Persönlichkeit? und daraus ergibt sich eine Identität, die insofern Zugehörigkeit suggeriert, das heißt, … Ja, Du hast Recht, vielleicht müssen wir da nachdenken.“
Oha, ein erstes Zugeständnis. Paul, dass Du Dich da mal nicht zu weit aus dem Fenster gelehnt hast. Tatsächlich aber deckt sich einiges mit dem Duden! Durcheinandergewürfelt wird dort allerdings mindestens genauso viel: Die Echtheit einer Person beispielsweise ist nicht dasselbe wie die Anerkennung von Fremdwahrnehmungen als Teil des eigenen Ichs. Trotzdem ist die Wechselbeziehung zwischen ‘Innen’ und ‘Außen’, das wird hier und auch in deiner Memo deutlich, wohl, was das Ich formt.
Viele Interviewpartner*innen antworteten recht vage auf die Frage, was Identität sei: Identität ist, was mich ausmacht, wer ich bin. Der Begriff wurde dabei oft an bestimmte Merkmale geknüpft, wie etwa Nationalität oder sexuelle Orientierung, er wurde in Verbindung gebracht mit Fähigkeiten oder Interessen, Schwimmsport oder Politik beispielsweise. Die Zugehörigkeit zu jeweiligen Gruppen spielt eine zentrale Rolle; sie ist Ausdruck dessen, wer oder was wir waren, sind und sein wollen und wirkt andererseits wieder auf uns ein. Identität aber auf die Summe der individuellen Zugehörigkeiten herunterzubrechen wäre eine vereinfachte Darstellung. In einer solchen Beschreibung nämlich würde der Aspekt der Zeitlichkeit fehlen:
„Identitätsentwicklung ist ein lebenslanger Prozess“,
das sagt Berthold Böttcher, 65 Jahre alt. Er ist ehemaliger Lehrer eines berufsbildenden Gymnasiums und referiert in seiner Aussage unbewusst auf Freud und Erikson, die ebendiese Annahme Anfang des 20. Jahrhunderts erstmals in Europa vertraten.
Eine Frage, die Berthold Böttcher sich, wie wir, stellt, ist: „Welchen Auftrag hat Bildung bei der persönlichen Weiterentwicklung eines Menschen?“ Kompetenzen vermitteln, die uns befähigen, unsere Identität zu bilden, ist seine Antwort. Wenn die Root Foundation sich also als Ort mit Bildungsauftrag versteht, ist sie identitätsstiftend. Eine Herausforderung sei allerdings, so Berthold Böttcher, nicht die eigenen Vorstellungen zum Bewertungsmaßstab zu machen: „Ich kann und darf keine Meinung bewerten, nur den Weg zur Meinung.“ Das ständige Bewerten sei ohnehin zu problematisieren – Was darf und kann man denn bewerten? Fest aber steht für ihn, trotz vieler Unsicherheiten: „Das Bildungsniveau hat viel damit zu tun, ob ich sagen kann, wer ich bin.“
Darüber diskutiere ich auch mit Ernest Mpawenayo. Er engagierte sich selbst im Children’s Center der Root Foundation und zog später aus Kigali weg, um für VSO im Bereich Lehrer*innenausbildungen zu arbeiten. „Bildung bietet Möglichkeiten an zwischen Wegen, wie man sein Leben beschreiten kann“, sagt er.
Bewusstes Auswählen von künftigen Schritten im Leben, das sei Identität. Aber auch, passiv übernommene Handlungsweisen oder Angewohnheiten des Umfelds zu reflektieren. „Bildung ist ein Prozess, Menschen zu formen, zu gestalten.“ Dazu zählt auch, das eigene Verhalten aktiv zu verändern.
Sarah Stemper, 19-jährige Journalistikstudentin, vergleicht die Ich-Werdung mit dem Bau eines Hauses: “Je älter ein Mensch wird, desto mehr Steine können nicht mehr einfach eingebaut, sondern nur herangetragen werden; ob sie in die Mauern des Identitätsgebäudes mit eingegliedert werden, obliegt ihm.” Nahestehende Menschen aus dem direkten sozio-ökonomischen Umfeld bezeichnet sie als „familiäres Sicherheitsnetzwerk“; hier finden wir unser erstes Baumaterial. Sich später völlig zu emanzipieren, das, glaubt sie, könne man aber wohl eher nicht.
Na, Paul, fällt Dir etwas auf? Sarah Stemper nähert sich dem Duden: “1b. als „Selbst“ erlebte innere Einheit der Person” - man muss also mit sich im Reinen sein, um weitergehen zu können. Sie beschreibt, ohne es zu wissen, auch das Konzept der Root Foundation: Die versucht letztlich, das “familiäre Sicherheitsnetzwerk” zu verbessern oder, falls das nicht gelingt, Alternativen anzubieten.
Identität ist also nicht nur, wer ich bin, sondern auch, wer ich war, wer ich sein will, und, wie ich und andere mich in der Welt einordnen - Herkunft und kulturelle Zugehörigkeit, zwei weitere Themen, die Konjunktur haben. Iris Bruchhäuser, 60 Jahre alt, engagiert sich in Limburg für Menschen mit Fluchterfahrungen und beobachtete in diesem Rahmen häufig, “dass diese Menschen sich entweder stark in ihre Community zurückziehen oder völlig mit der deutschen Kultur assimilieren. Beides finde ich verständlich, aber es kann auch hemmen - die Integration oder den Frieden mit sich selbst.” Identität ist laut ihr also eine Gratwanderung zwischen Abgrenzung und Zugehörigkeit – um beide bemühen wir uns dauerhaft.
Die modernen Identitätskonzepte scheinen also ihre Fallstricke zu haben, in ihrem Anspruch an Kreativität und Selbstorganisation an Grenzen zu stoßen. Aber was mit dem Individuum passiert, wenn der Selbstprozess scheitert, dazu finden sich wenige Quellen. Ein Tabu-Thema? Denn ob zufriedenstellend oder nicht, Identität in der Moderne ist, das wird hier deutlich, die riskante und andauernde Tat, ein ständig im Wandel begriffenes „Ich“ zu konstruieren, das sich flexibel verschiedensten Situationen und deren Anforderungen stellen kann.
„Was passiert denn, wenn das Haus vollständig zum Einsturz gebracht wird?“, das frage ich auch Sarah Stemper am Telefon. „Vermutlich nutzt man das alte Material wieder, unsere Erfahrungen und Erinnerungen machen uns ja aus. Aber sicher findet man in dem Haufen auch nicht alle Bausteine wieder und muss die Lücken auf neue Art und Weise schließen.
Ein Mensch ist ja mehr als nur seine Vergangenheit.“
Weniger optimistisch fasst Nicke zusammen: “Der Nachteil einer prozesshaft konzipierten Identität besteht in ihrer Relativität, die die Funktionalität von Identität vermindert. Wenn identitäre Erscheinungsformen im Verhältnis [...] gebildet werden, dann reduzieren sich langfristige und dauerhafte Orientierungsmuster als potentielle Identitätskategorien für den Einzelnen.”
Mit ihrem ganzheitlichen Ansatz, könnte man jetzt argumentieren, versucht die Root Foundation, ihre Schützlinge auf eben diese Realität vorzubereiten, für deren Bewältigung sie ihnen Ansätze zur persönlichen Identitätsbildung mitgibt. So langsam, Paul, geht mir das jetzt schon auf den Keks, dass Du einfach so, ohne sinnvolle Begründung, Recht haben könntest mit deiner Aussage: Die Root Foundation ist identitätsstiftend.
Das Spontane, das Situative im Ich ist also nicht erst seit dem Zeitalter des Digitalen wichtig. Was im Duden unter “1a. Echtheit einer Person oder Sache” aufgeführt ist, wird zur Herausforderung: Der Mensch nimmt Rollen an und legt andere ab; er zeigt sich nach außen. Zugleich besteht seit Descartes die substantielle Vorstellung eines identitären Kerns im Inneren, der festlegt, wer wir sind. Wegen des permanenten Ich-Wandels kann dieses Sinnbild allerdings als überholt bezeichnet werden.
Manches Mal musste ich während der Recherche lachen: Ich sah Dich vor mir, Paul, und wie Du die Arme in die Luft wirfst. Was denn nun? Kern oder Prozess? Bildet Identität sich passiv durch äußere und innere Faktoren, ist sie von Geburt an da und muss nur herausgearbeitet, sichtbar gemacht werden oder wird sie aktiv von den Subjekten selbst konstruiert? All das kann wegen der Spannung zwischen substantiellen und prozessualen Positionen in der Identitätbegriffsdiskurse gefragt werden. „Vielleicht teilen Begriff und Person […] dieselbe Erfahrung. Beide sehnen sich nach einer linear und historisch begründbaren Ontologie, stehen aber gleichzeitig dem Anspruch der Flexibilität […] gegenüber“, vermutet Huber im Buch Durch Lesen sich selbst verstehen. Die Sache mit dem Kern können wir also knicken. Das klingt doch vielversprechend. Bleibt eigentlich nur noch eine Frage:
Wer sind wir, wenn wir alle Masken fallen lassen, keine Rolle mehr einnehmen, und die ganze Welt, entgegen des Shakespeare’schen Grundsatzes, nicht mehr als eine einzige Bühne betrachten? Oder, anders gefragt: Geht es bei Identität wirklich darum, wer wir “in Echt” sind, oder nicht doch vielmehr darum, wie vielfältig wir uns inszenieren können? Ist das nicht vielleicht sogar dasselbe? Ja und Nein.
Theorien der narrativen Identität etwa gehen davon aus, dass Ich-Erzählungen zentral sind bei der Erschaffung von Selbstbildern; zuweilen sogar, dass wir uns als Selbst ohne die Erzählform gar nicht erfassen könnten. Sie denken in diesem Rahmen aber auch darüber nach, inwiefern der Akt des Erzählens Identität tatsächlich konstruiert oder auch (nur) präsentiert. Und kommen zu dem Schluss, dass sich zwischen diesen beiden Funktionen wohl nur selten eine klare Trennlinie ziehen lässt. Die Root Foundation, um im Bild zu bleiben, bietet den Teilnehmer*innen ein neues, vielversprechendes Narrativ an.
Ähnlich wie Sarah Stemper den Beginn des Lebens als prägende Phase betont, beschreibt auch der 29-jährige Mediziner Irakoze Magnifique unseren Eintritt in die Welt. Neben den pränatalen Einflüssen auf unser biologisches Werden bezeichnet er die Geburt als vielleicht unmittelbarste körperliche Erfahrung überhaupt, als ersten Moment, in dem wir uns darüber bewusst würden, dass wir ein „Selbst“ seien.
Er bestätigt damit Freuds Theorie eines “Körper-Ichs” - die Vorstellung, dass ein Mensch sich primär als körperliches Wesen wahrnimmt - betont zugleich aber auch, dass der Umgang mit Fremdwahrnehmungen vor allem durch das soziale Umfeld geprägt würde. Die (Fremd-) Wahrnehmung körperlicher Aspekte wie Haut- oder Haarfarbe etwa stehen also immer in Abhängigkeit zu sozialen Faktoren, welche Rolle sie in bestimmten Kontexten spielen, und wie sie auf die Entwicklung anderer Lebensbereiche einwirken.
Trotz der allgemeinen Tatsache, dass ein Mensch nicht aus sich selbst heraus leben kann, also an eine sogenannte soziale Identität gebunden ist und bleibt, wird der kulturelle wie politische Diskurs um Identität zunehmend mit größter Schärfe geführt. Fragt man nun aber Jesko Hennig, 20-jährigen Politikwissenschaftsstudent, inwiefern Identität politisch gedacht werden kann (oder sogar muss), verbleibt er, anders als erwartet, beim Individuum: “Identität wird dann politisch, wenn anhand der eigenen Entwicklung deutlich wird, dass das Ich im aktuellen Status Quo nicht vorgesehen ist. Dabei ist der Status Quo nicht unpolitisch, und er tritt auch nicht in Konflikt mit einer inhärenten Identität. Ganz im Gegenteil: Identität ist unpolitisch, sie wird erst dadurch politisch, dass die Außenwelt es ist.”
Er glaubt auch: “Wenn man davon ausgeht, dass Identität maßgeblich durch Beziehungen (auch der Beziehung zu sich selbst) gestiftet wird, ist es mit fortschreitendem Alter schlicht wahrscheinlicher, dass man sich sicher ist in seiner Identität.” Was wir also brauchen, liegt auf der Hand: eine dickere Haut. Oder, falls daraus nichts werden sollte, “eine Art Gesellschaftsvertrag”, wie Jesko Hennig es nennt. Der diene dem Zweck, allen Menschen bestmöglich das eigene Streben nach Glück zu ermöglichen.
Diese soziale Verpflichtung sieht Umutoni Divine auch im Rechtssystem. Sie ist 22 Jahre alt, studiert Jura und arbeitet nebenher im Children’s Center der Root Foundation. “Staat und Gesetz sind als rechtlicher Rahmen für die Menschen da, nicht umgekehrt.” Ihre soziale, gesellschaftliche Schutzfunktion sei damit auch ihre Legitimation. Zugleich fungierten sie als Leitlinien, gäben gewissermaßen Empfehlungen zu möglichst gesellschaftsverträglichem Leben ab.
Eine große, institutionalisierte erzieherische Aufgabe also, deren Erfüllung das Zusammenleben innerhalb der Staatsgrenzen erleichtern soll? Bis zu einem bestimmten Grade wohl schon. Trotzdem mahnt Umutoni Divine: “Gesetze können zu Ausschlussmechanismen führen, zu Diskriminierung, zu blinden Flecken und dem Gefühl, dass ich nicht willkommen bin als der Mensch, der ich bin.”
Davon spricht auch Felicia Rolletschke, 26-jährige trans*-Aktivistin und tätig in der Bildungsarbeit. Sie berichtet auf https://transformationaltomorrow.wordpress.com sowie ihrem gleichnamigen Instagram-Account von ihrer eigenen Transition und informiert über queere Themen. “Ähnliche Diskriminierungserfahrungen erzeugen ein Gemeinschaftsgefühl”, erklärt sie. Neben hinderlichen rechtlichen Rahmenbedingungen betont sie die antagonistisch aufgestellte Gesellschaft. Die mache den dauerhaften Kampf um Anerkennung, zuweilen sogar eine Daseinsberechtigung, erforderlich. “Dadurch, dass queere Menschen ständig diskriminiert werden, beschäftigen sie sich mit diesem Aspekt ihres Lebens vermutlich auch mehr. Dieser Prozess kann sehr identitätsformend sein.”
Das lässt sich auch auf die Teilnehmer*innen der Root Foundation übertragen: Ihre oftmals marginalisierte Position am Rande der Gesellschaft bringt sie zusammen und wird Grundlage für ein Nachdenken über sich selbst. Der Unterschied: Erstere können ihre Situation innerhalb der diskriminierenden Gesellschaft mithilfe der Root Foundation nachhaltig verändern, queere Personen nicht - sie versuchen, das Bewusstsein ihrer Umwelt nachhaltig zu sensibilisieren.
Aber auch, sich nicht mit etwas auseinanderzusetzen sei eine Form der Auseinandersetzung, so Felicia Rolletschke. An dieser Stelle wird ein Defizit der Root Foundation offenkundig: Wohl auch, weil es gesellschaftlich tabuisiert wird, ist das Thema Geschlecht trotz Sexual Health-Workshops noch immer unter-beachtet. Die Ambition, allen Teilnehmer*innen einen sicheren Ort zu bieten und die Möglichkeit, sie selbst zu sein, hat die Root Foundation in diesem Punkt noch nicht erreicht. Sie toleriert vielmehr auch diskriminierende Verhaltensweisen, weil sie sie womöglich gar nicht als solche erkennt; ist hier also negativ identitätsformender Bestandteil queerer Teilnehmer*innen.
Genau deshalb gäbe es, schließt Umutoni Divine an, auf jeder gesellschaftlichen Ebene die ständige Verpflichtung zur Veränderung hin zum Menschen, um allen ein gutes Leben zu ermöglichen. Mir fällt, während Umutoni Divine spricht, auf: Sie bezieht sich kein einziges Mal auf konkrete Gesetzestexte, sondern verbleibt, wie Jesko Hennig, beim Individuum, dessen Überzeugungen, Eigenschaften, Fähigkeiten. Als sei Identität etwas ausschließlich Privates, das sich kategorisch oder institutionell nicht erfassen ließe, so eng oder frei rechtliche Rahmenbedingungen auch sein mögen. Ihre Antworten beginnen häufig mit Formulierungen wie “Ich denke,...” oder “Ich glaube, dass…”. Und werfen bei mir die Frage auf, ob, wenn es schon nicht auf dem Wege der Fakten klappt, zu einer klaren Definition von Identität zu kommen, vielleicht Glaube eine Antwort bereithält.
Christina Bartholomé, 22-jährige Literatur- und Theologiestudentin, würde das vermutlich bejahen. Glaube sei dauerhafter und weniger situationsgebunden als ein Hobby zum Beispiel, weil er ihre Werte definiere und nicht, wie häufig sie eine Kirche besuche. Sie zeigt mir Notizen aus einer Vorlesung über die Forschung zum Alten Testament: Davon, den Mensch als Kollektiv zu lesen, sei man mittlerweile abgerückt. Heute versuche man, das Individuum stärker hervorzuheben. Trotzdem sei das Gemeinschaftliche noch sehr wichtig.
Interessant darum auch, was viele deutsche Freiwillige bei der Root Foundation bemerkten: Glaube, Gemeinschaft und Familie haben in Ruanda einen anderen Stellenwert als in Deutschland, erschienen im (Arbeits)-Alltag dort deutlich präsenter. Zwar begriffen alle Interviewpartner*innen ihr soziales Umfeld zu Beginn ihres Lebens als formgebende Zeit schlechthin, doch definierten sich vor allem meine deutschen Gesprächspartner*innen heute nicht mehr primär über dieses Netzwerk, sondern fast gleichwertig über den Beruf oder die Haupttätigkeit, die sie ausüben.
Es braucht also Gemeinsamkeiten, damit man sich zugehörig fühlt. Zu denen gehöre selbstverständlich, so formulierte der ehemalige Präsident des Deutschen Bundestages Wolfgang Thierse es in einem faz-Beitrag, auch die Sprache. Darüber lässt sich wohl streiten. Nicht aber darüber, dass Sprache und Identität in einem ganz entscheidenden Spannungsverhältnis stehen.
Im WDR5 Podcast “Über Identitäten und das richtige Sprechen” diskutiert die Moderatorin Elif Senel mit Philosophin Svenja Flaßpöhler und Mithu Sanyal, Autorin des Romans Identitti, über Sprachsensibilität. Dank der neuen Medien könnten sich auch bislang marginalisierte Gruppen zu Wort meldeten, darauf hinweisen, dass ihre Bedürfnisse, darunter auch das der Repräsentanz, übergangen würden. Als widersprüchlich allerdings bezeichnen die Gäste, “dass es wieder verstärkt um Darstellung von Identität geht, wo die Postmoderne doch eigentlich auf Dekonstruktion zielt”, auf das “Aufsprengen von Identitäten”. “Man kann Identitäten relativ schnell hinter sich lassen, wenn man sie erst einmal hat”, sagt Mithu Sanyal und tippt damit die Vermutung an, dass die aktuelle Suche nach Identität das Thema so brisant macht - auch für die Root Foundation.
Und in den neuen Medien, die die Dekonstruktion von Identität womöglich verstärken, Machtverhältnisse verschieben, Themen amplifizieren. Über vereinfachende, unterkomplexe Kategorien ginge verloren, dass Menschen Möglichkeitswesen seien, so Kulturwissenschaftler Jörg Scheller im Podcastgespräch mit Deutschlandfunk. Er plädiert, wie ich zu Anfang dieses Briefes, für eine “Temporalität der Identitätspolitik”. Das bedeute, “den Blick zu schärfen für das Spezifische”. Man dürfe nicht beim Identifizieren stehen bleiben, sondern müsse dann auch dazu übergehen, zu imaginieren, zu verbinden.
Fotografin und Schriftstellerin Franziska Hauser, 46, stimmt zu, glaubt, dass es Im Diskurs letztlich darum gehen müsse, “verstanden zu werden und andere zu verstehen.” Sich identifizieren heiße für sie, sich in andere hineinversetzen zu können; sich hineinversetzen wiederum, sich gegenseitig zu bereichern. Weil man sich aus immer neuen Positionen auf sich rückbeziehe. Und - im Versuch, zu verstehen - über die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung nachdenke. So auch beim Schreiben.
“Kunst kann einen gesellschaftlichen Beitrag leisten”, glaubt Franziska Hauser deshalb, “weil sie Vorstellungen vermittelt. Alles, was man verändern will, muss man sich erst einmal vorstellen können; und wenn man sich mit den Vorstellungen in der Kunst identifizieren kann, ist das vielleicht der erste Schritt zur Veränderung.” Franziska Hauser stimmt damit Elif Senel aus dem Podcast “Über Identitäten und das richtige Sprechen” zu, die sagte: “Wenn wir für bestimmte Dinge keine Sprache haben, können wir [...] nicht mal mehr mit uns selber darüber sprechen, was ja ein anderes Wort für ‘über Dinge nachdenken’ ist.”
Und Nachdenken, um Veränderungen zu erwirken, ist schließlich auch für die Root Foundation immer der erste, wichtigste Schritt.
Dieser Textbeitrag soll und kann deshalb nur ein Beispiel bleiben. Identität als Gesamtheit lässt sich in einem einzigen Artikel kaum begreifen. Der Text ist unvollständig, er referiert mehrheitlich auf weiße, deutsche, akademische Stimmen; er stammt von mir - einer einzigen Autorin und nicht, wie nötig wäre, von allen, die in Beziehung zur Root Foundation stehen. Und selbst dann…
Paul, ich habe das Kriegsbeil mit der Aufschrift „Identität“ wieder ausgegraben, und ich möchte Dir ein Friedensangebot machen: Du hattest Recht - die Root Foundation ist identitätsbildend - aber deine Begründung war wirklich miserabel. Das musst Du zugeben. Und wir hören voneinander, wenn Du mal wieder Flyer bastelst. Bis dann!
Viele Grüße,
Annika
Quellen & References:
Geyer, Oliver: „Immer Ich“, Fluter, 22.12.2016, https://www.fluter.de/Interview-Wolfgang-Engler-Ernst-Busch (letzter Zugriff: 09.12.2021).
Huber, Florian: Durch Lesen sich selbst verstehen. Zum Verhältnis von Literatur und Identitätsbildung. Hrsg. von Heiner Keupp. (transcript Verlag, Bielefeld 2008).
Nicke, Sascha: „Der Begriff der Identität“,bpb, 17.12.2018, https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtspopulismus/241035/der-begriff-der-identitaet (letzter Zugriff: 05.10.2021).
Schmarzoch, Raphael: „Menschen sind Möglichkeitswesen“, Deutschlandfunk, 27.06.2021, https://www.deutschlandfunk.de/identitaetspolitik-menschen-sind-moeglichkeitswesen-100.html (letzter Zugriff: 08.12.2021)
Thierse, Wolfgang: „Grabenkämpfe gegen Gemeinsinn. Wie viel Identität verträgt die Gesellschaft?“, FAZ, 22.02.2021, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/wolfgang-thierse-wie-viel-identitaet-vertraegt-die-gesellschaft-17209407.html (letzter Zugriff: 17.11.2021).
WDR5 Das philosophische Radio: „Politisch? - die Identität“, WDR, 12.04.2021, https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-das-philosophische-radio/audio-politisch---die-identitaet-100.html (letzter Zugriff: 17.11.2021).
WDR5 Das philosophische Radio-Podcast: „Über Identitäten und das richtige Sprechen“, WDR, 04.09.2021, https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-das-philosophische-radio/audio-ueber-identitaeten-und-das-richtige-sprechen-100.html (letzter Zugriff: 08.12.2021).
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