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Die Relevanz der Sichtbarkeit. Der Afrozensus 2020 und seine Bedeutung

Text von Marie Dudek |





Seit Anfang 2022 taucht er immer wieder in den Sozialen Medien und auf den Webseiten etablierter Medienhäuser auf: der Afrozensus 2020. Nicht nur auf Instagram und TikTok wird über den Afrozensus gesprochen, auch beim SWR, der Deutschen Welle oder bei Fluter, dem Jugendmagazin der Bundeszentrale für politische Bildung, ist er Thema.



Was genau ist eigentlich der Afrozensus?

Vom lateinischen census abstammend, bedeutet „zensus“ soviel wie „Volkszählung“. Der Afrozensus ist nun genau das, was der Name verspricht: die erste Volkszählung und Befragung von Schwarzen, afrikanischen und afrodiasporischen Menschen in Deutschland. Es ist die erste ihrer Art, noch nie zuvor hat es eine statistische Erhebung der Lebenssituation dieser Bevölkerungsgruppe in Deutschland gegeben. Öffentliche Sichtbarkeit Schwarzer Menschen wurde bisher über Vereine und Organisationen wie etwa der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) kreiert, die jedoch mit ihren Mitgliedern immer nur einen Bruchteil der Schwarzen, afrikanischen und afrodiasporischen Bevölkerung repräsentiert. Auch der Afrozensus bildet nur einen kleinen Teil der ca. eine Million Menschen umfassenden Gruppe ab: knapp 6.000 Personen haben teilgenommen.


Zur Grundgesamtheit, also zur Anzahl aller in Deutschland lebender Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Menschen, liegen bisher keine quantitativen Daten vor. Aus diesem Grund konnte für den Afrozensus keine zufällige Stichprobenziehung erfolgen, also eine zufällige Auswahl einer Teilmenge der gesamten Anzahl Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Menschen. Das bedeutet, dass der Afrozensus nicht statistisch auf die Grundgesamtheit der Schwarzen, afrikanischen und afrodeutschen Bevölkerung verallgemeinert werden kann. Aussagen über Zusammenhänge können sich also immer nur auf die Teilnehmer:innen der Studie beziehen, was den Afrozensus zu keiner repräsentativen Umfrage macht. Und trotzdem ist der Afrozensus relevant, indem er Sichtbarkeit und öffentliche Aufmerksamkeit herstellt.


Eine Befragung von dezidiert nicht-weißen Menschen in Deutschland ist bisher nicht durchgeführt worden. Das kann einerseits daran liegen, dass Forschungsbereiche wie Black Studies in Deutschland nicht etabliert sind, wie Dr. Maisha Maureen Auma, Professorin an der Hochschule Magdeburg-Stendal und der TU Berlin, der taz in einem Interview darlegte. In der Forschung gibt es bisher keinen Raum für speziell Schwarze Geschichte und Anti-Schwarzen Rassismus. Die Black Lives Matter Bewegung und der Black History Month als Maßnahmen zur Sichtbarmachung von Schwarzen Lebensrealitäten auch in Deutschland bleiben wichtige, aber zivilgesellschaftliche Phänomene.


Ein weiteres Problem bei der Erforschung rassistischer Diskriminierung auf amtlichem Niveau stellt das Mikrozensusgesetz (BGBI. I S. 2868) dar. Im Mikrozensus wird der Migrationshintergrund der Befragten erhoben. Allerdings ist ein Migrationshintergrund nicht unbedingt gleichbedeutend mit Diskriminierung aufgrund des Aussehens. Auch Menschen ohne direkten Migrationshintergrund, in zweiter oder dritter Generation, können Diskriminierung aufgrund ihres Aussehens erfahren. Hautfarbe und Ethnie dürfen laut dem Mikrozensusgesetz jedoch nicht erhoben werden. Das ist nicht nur im Hinblick auf die deutsche Geschichte sicherlich eine sinnvolle Entscheidung. Allerdings macht dies die Untersuchung von Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe und Fremdzuschreibung quasi unmöglich und bleibt ein Problem, für das es langfristig eine Lösung braucht, um ein realistisches Bild der Erfahrungen nicht-weißer Menschen in der deutschen Bevölkerung zu zeichnen und darauf aufbauend Handlungsempfehlungen formulieren zu können.


Kurzfristig kann der Afrozensus einen ersten Eindruck der Lebensrealität nicht-weißer, afrikanischer, afrodiasporischer und Schwarzer Menschen in Deutschland vermitteln. Da die Studie nicht von einer Regierungsinstitution, sondern von den Organisationen Each One Teach One e.V. und Citizens for Europe durchgeführt wurde, stellte die Abfrage der Selbst- und Fremdzuschreibung bezüglich des Aussehens kein Problem dar.



Was genau hat der Afrozensus erfasst?

Klar ist: Die Ergebnisse der Umfrage waren für die wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen keine Überraschung, wie Joshua Kwese Aikins von der Universität Kassel der Deutschen Welle in einem Interview berichtete. Was den Afrozensus so besonders mache, sei die gesammelte Darstellung von Diskriminierungserfahrungen, teilweise mit erschreckenden Einzelfallbeispielen, so Kwese. Während Diskriminierung immer auch individuell wahrgenommen wird, können einige Erfahrungen unter einer großen Gruppe der Befragten geteilt werden: ungefragtes In-Die-Haare-Greifen, Sexualisierung und Kriminalisierung sind häufige Erfahrungen, die Menschen afrikanischer Herkunft in Deutschland machen. Auffällig ist hierbei, dass der Körper und die Haut afrikanische und Schwarze Menschen nicht nur als solche erkenntlich machen, sondern auch bei den konkreten Formen von Diskriminierung eine große Rolle spielen. Außerdem sticht heraus, dass 90% der Befragten davon berichten, dass ihnen nicht geglaubt wird, wenn sie auf Rassismus hinweisen. Phrasen wie „Das war doch gar nicht so gemeint“ oder „Das war nur Spaß“ sind keine Seltenheit. Menschen, die auf die rassistische Qualität von Äußerungen hinweisen, werden oft als wütend oder aggressiv abgestempelt. Und genau dort liegt, wie man so schön sagt, der Hase im Pfeffer begraben. Denn hier zeigt sich die Bedeutung des Afrozensus für die gesamte deutsche Bevölkerung.



Welche Relevanz hat der Afrozensus?

Der Afrozensus reiht sich ein in die aufkommenden Berichte, Bücher und Zeitungsartikel, welche über strukturellen und offenen Rassismus in Deutschland aufklären. Vor allem seit dem neuerlichen Aufkommen der Black Lives Matter Bewegung in Deutschland 2019 werden sie vermehrt an die Öffentlichkeit getragen. Er trägt dazu bei, dass rassistische Aussagen, unabhängig davon, ob sie „böse gemeint“ waren oder nicht, als solche bewusst gemacht werden. Dieses Problembewusstsein ist der erste Schritt für eine weniger rassistische deutsche Gesellschaft und sollte deshalb nicht unterschätzt werden.


Die Autor:innen des Afrozensus haben die Bedeutung ihrer Forschungsarbeit in sechs Punkten zusammengefasst. Diese Punkte umfassen nicht nur eine Thematisierung der Bedeutung des Problembewusstseins von anti-Schwarzen Zuschreibungen und anti-Schwarzem Rassismus, sondern auch, dass durch die Umfrage anti-Schwarzer Rassismus erstmalig in großem Stile anerkannt und eingeordnet werden kann. Die Lebensrealität vieler afrikanischer, afrodiasporischer und Schwarzer Menschen wird so als legitim und wichtig dargestellt – auch von Menschen, die afrikanischer Herkunft sind, aber nicht mehr offiziell als Menschen mit Migrationshintergrund gelten. Auch ihre Stimmen werden durch den Afrozensus erstmals erfragt und als gleichwertig dokumentiert. Außerdem zeigt der Afrozensus, dass es nicht „die afrikanische Community“ und „den:die Afrikaner:in“ gibt. Menschen mit afrikanischer Herkunft in Deutschland sind eine junge, heterogene Gruppe die, so der Afrozensus, häufig nicht als solche wahrgenommen, sondern verallgemeinert werden. Auch abseits der Auseinandersetzung mit dem Afrozensus fällt auf, dass der afrikanische Kontinent im öffentlichen Diskurs noch oft als als homogene Landmasse mit einheitlicher Kultur und Sprache dargestellt wird. Durch die differenzierte Darstellung Schwarzer, afrikanische und afrodiasporischer Menschen im Afrozensus kann diesem Problem begegnet werden.


Schließlich konnten die Autor:innen der Umfrage auch konkrete Handlungsempfehlungen für die Schwarze und nicht-Schwarze Bevölkerung in Deutschland sowie für die Politik in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Wissenschaft sowie Professionalisierung, Antidiskriminierung und Repräsentation formulieren. Damit leistet der Afrozensus direkt einen Beitrag zur möglichen Verbesserung der Lebensrealität von Menschen afrikanischer Herkunft in der Bundesrepublik.


Die wichtigste Funktion des Afrozensus ist aber die Sichtbarmachung von Schwarzen, afrikanischen und afrodiasporischen Menschen in Deutschland. Durch die Studie wurde ihnen eine Stimme verliehen, die mehr als nur die üblichen migrantischen, nicht-weißen Communities erreichen kann. Ein Bewusstwerden der weißen deutschen Bevölkerung über diskriminierende Strukturen im eigenen Land ist Voraussetzung für eine Reflexion eigener diskriminierender Handlungen.



Welche Bedeutung hat der Afrozensus für die Entwicklungszusammenarbeit?

Auch für die Entwicklungszusammenarbeit sind diese Erkenntnisse essentiell. Erst mit dem ständigen Bewusstsein über Diskriminierungsstrukturen kann eine reflektierte und selbstkritische Entwicklungszusammenarbeit passieren. Der Anfang von globalem Handeln liegt in unserer unmittelbaren, lokalen Umgebung. Wenn wir nicht einmal innerhalb Deutschlands Verhalten reflektieren und kritisch hinterfragen lernen, wie können wir in einem globalen Kontext politische und facettenreiche soziale Vernetzung auf Augenhöhe betreiben?


Der Afrozensus kann anti-Schwarzen Rassismus in Deutschland nicht beenden. Er kann nicht die gesamte deutsche Bevölkerung erreichen und sensibilisieren. Das ist auch nicht der Anspruch einer wissenschaftlichen Studie. Jedoch stellt der Afrozensus als erste Volkszählung und Befragung Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Menschen einen weiteren wichtigen Baustein auf dem Weg zu einer diskriminierungsfreieren, reflektierteren und bewussteren Gesellschaft dar.


Für detailliertere Einblicke in die Studie und konkrete Informationen zu den Handlungsempfehlungen ist der Afrozensus hier in ganzer Länge frei zugänglich: https://afrozensus.de




Quellen:

Aikins, Muna u.a.: Afrozensus 2020: Perspektiven, Anti-Schwarze Rassismuserfahrungen und Engagement Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Menschen in Deutschland, (2021), https://afrozensus.de/reports/2020/ (Stand 20. März 2022)


Hoeder, Ciani-Sophia: „‚90 Prozent geben an, dass ihnen ungefragt in die Haare gefasst wird‘, Zeit Online, 3. Dezember 2021, https://www.zeit.de/zett/politik/2021-12/afrozensus-rassismus-befragung-eoto?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com (Stand 06. März 2022)


Prado, Simon Sales: Black Studies Matter, taz, 7. August 2020, https://taz.de/Weisse-Hochschulen/!5700152/ (Stand 6. März 2022)


Ritz, Nelly: „‚Wir schreien und werden nicht gehört‘, Zeit Online, 28. Mai 2021, https://www.zeit.de/campus/2021-05/natasha-a-kelly-rassismus-forschung-universitaet-soziologie/seite-2 (Stand 6. März 2022)



Wittig, Volker: „Afrozensus: Verbreiteter Rassismus in Deutschland“, DW, 30. November 2021, https://www.dw.com/de/afrozensus-verbreiteter-rassismus-gegen-schwarze-in-deutschland/a-59977715 (Stand 14. März 2022)


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